Bürgergeld: Umstrittene Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat eine bahnbrechende Entscheidung getroffen: Auch Arbeitseinkommen ohne Rechtsanspruch muss beim Bürgergeld berücksichtigt werden. Bürgergeld-Empfänger sind verpflichtet, dieses Einkommen für ihren Lebensunterhalt zu verwenden.
Wichtige Punkte des Urteils:
- Laufende Einnahmen (z.B. Lohn während Kündigungsschutzklage) gelten als Einkommen
- Rückzahlungsverpflichtungen nach dem Zuflussmonat ändern nichts an der Einkommensanrechnung
- Betroffene müssen das Geld im Zuflussmonat für den Lebensunterhalt einsetzen
Diese Entscheidung könnte weitreichende Folgen für Bürgergeld-Bezieher haben.
Rechtswidrig / vertragswidrig gezahlter Lohn ist Bürgergeld Einkommen
Landessozialgericht: Gehalt ist Einkommen, auch wenn Berufsungsgericht es als unrechtmäßige Zahlung einordnet!
Mit Urteil unter dem Aktenzeichen L 18 AS 1178/23 hat das Landessozialgericht Berlin Brandenburg entschieden, dass aufgrund einer Kündigungsschutzklage rechtswidrig gezahlter bzw überzahlter Lohn anrechenbares Einkommen ist.
Und zwar vertritt das Landessozialgericht die Auffassung, dass dann, wenn die Verpflichtung zur Rückzahlung einer laufenden Einnahme erst nach dem Monat des Zuflusses (z.B. Arbeitsentgelt aufgrund einer Kündigungsschutzklage) entstehe, die Einnahme für den Zuflussmonat als Bürgergeld Einkommen zu berücksichtigen ist.
Bürgergeld und Arbeitsentgelt während Kündigungsschutzklage
Folgender Sachverhalt lag der Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg zugrunde:
Die Klägerin (und SGB II Beziehern /heute Bürgergeld) war bei einer Arbeitgeberin beschäftigt, die das Arbeitsverhältnis zum 30. September gekündigt hatte. Die Kündigungsschutzklage hatte beim Arbeitsgericht (ArbG) Berlin Erfolg, worauf die Arbeitgeberin die zunächst eingestellten Gehaltszahlungen wieder aufnahm. Dem Konto der Klägerin wurden demgemäß im Januar, im Februar und März Gehaltszahlungen gutgeschrieben.
Auf die Berufung der Arbeitgeberin hob das Landesarbeitsgericht (LAG) das Urteil des Arbeitsgerichts auf und wies die Kündigungsschutzklage ab
Im November 2019 forderte die Arbeitgeberin von der Klägerin die Rückzahlung des auch im Streitzeitraum gezahlten Arbeitsentgelts.
Für die Zeit vom Januar bis Juni hatte das Jobcenter der Klägerin SGB II-Leistungen (heute ist das das Bürgergeld – Regelsatz und Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) bewilligt). Nach Mitteilung der Gehaltszahlungen durch die Arbeitgeberin im März hob das Jobcenter die Bürgergeld Bewilligung ab April ganz auf und nahm auch die Bewilligung für Januar bis März in vollem Umfang zurück. Ferner forderte das Jobcenter die Erstattung der insoweit gezahlten Leistungen und erklärte die Aufrechnung mit den der Klägerin ab 1. Februar des nächsten Jahres zustehenden Leistungsansprüchen i.H. v 10 % des maßgeblichen Regelbedarfs.
Gehalt, auf das kein Anspruch besteht, ist kein Bürgergeld Einkommen?
Die Klägerin (Bürgergeld-Beziehern) vertrat den Standpunkt, das nachgezahlte Arbeitsenthalt habe ihr aufgrund des rechtskräftigen LAG-Urteils nicht zugestanden. Derart rechtswidrig gezahltes bzw überzahltes Arbeitsentgelt sei bereits im Zeitpunkt der Zahlung zur Rückzahlung fällig.
Landessozialgericht gibt Jobcenter Recht: gezahlter Lohn, auf den kein Anspruch besteht, ist Einkommen
Das Landessozialgericht wies die Klage der Bürgergeld Bezieherin jedoch ab. Das Jobcenter habe die Bewilligung von SGB II-Leistungen (Bürgergeld) an die Bürgergeld-Beziehern für Januar bis März beanstandungsfrei aufgehoben. Die Klägerin sei zur Erstattung der insoweit gezahlten Leistungen verpflichtet. Der Beklagte sei auch berechtigt gewesen, mit Wirkung vom 1. Februar die Aufrechnung .i H. v 10% der monatlichen Regelsatzes durchzuführen.
Lohnzahlungen während Kündigungsschutzklage sind beim Bürgergeld zu berücksichtigen
Bei den Entgeltzahlungen während der Kündigungsschutzklage handele es sich um berücksichtigungsfähiges Einkommen. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II seien als Einkommen zu berücksichtigen: Einnahmen in Geld abzüglich der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a SGB II genannten Einnahmen.
Was ist Bürgergeld Einkommen, was ist Bürgergeld Vermögen?
Dabei sei Einkommen i. S. d § 11 SGB II nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des Bundessozialgerichts (BSG), die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt, grundsätzlich alles das, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält, und Vermögen das, was er vor Antragstellung bereits habe.
Folglich handele es sich bei den der Klägerin von Januar bis März nach der SGB II-Antragstellung überwiesenen Entgeltzahlungen um Einkommen.
Einkommen muss zur endgültigen Verwendung zufließen
Dem stehe nicht entgegen, so das Landessozialgericht, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, nur solche Einnahmen in Geld als Einkommen iSd § 11 SGB II anzusehen sind, die einen Zuwachs von Mitteln bedeuten, der dem Hilfebedürftigen zur endgültigen Verwendung zufließen.
Entscheidend für die Privilegierung von bestimmten Zuflüssen ist danach, dass in dem Zeitpunkt, in dem die Einnahme als Einkommen berücksichtigt werden soll, der Zufluss bereits mit einer (wirksamen) Rückzahlungsverpflichtung belastet ist.
Wenn jedoch eine Verpflichtung zur Rückzahlung der laufenden Einnahme erst nach dem Monat eintrete, für den sie berücksichtigt werden soll, bestehe die Verpflichtung des Hilfebedürftigen, die Leistung als “bereite Mittel” in dem Monat des Zuflusses auch zu verbrauchen. Insbesondere seien solche Rückstellungen nicht geschützt, die Leistungsempfänger in Bezug auf möglicherweise eintretende, im Zeitpunkt des Zuflusses aber noch ungewisse, künftige Zahlungsverpflichtungen vornehmen würden.
Für die Bestimmung der Hilfebedürftigkeit sei allein auf den Zeitpunkt des Eintritts der Rückzahlungsverpflichtung abzustellen. Dieser habe hier nach dem streitigen Zeitraum gelegen.
Auch nicht-rechtskräftiges Urteil schafft Vertrauen auf Behaltendürfen der Zahlung
Die Klägerin habe, so das Landessozialgericht, aufgrund des der Kündigungsschutzklage stattgebenden Urteils des ArbG vom 7. Dezember 2018 einen grundsätzlichen Anspruch (der auch während des Kündigungsschutzprozesses besteht) auf weitere Beschäftigung und Zahlung von Arbeitsentgelt gehabt, weil das Arbeitsverhältnis nach dem Urteilsausspruch durch die Kündigung nicht beendet worden war. Dem sei die Arbeitgeberin auch nachgekommen.
Wenn im Kündigungsschutzprozess ein die Instanz abschließendes Urteil ergehe, das die Unwirksamkeit der Kündigung und damit den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses feststelle, werde durch ein solches noch nicht rechtskräftiges Urteil zwar keine endgültige Klarheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses geschaffen. Wenn jedoch ein Gericht eine die Instanz abschließende Entscheidung treffe und die Unwirksamkeit der Kündigung feststelle, so sei damit zumindest eine erste Klärung der Rechtslage im Sinne der klagenden Arbeitnehmerin eingetreten.
Ein noch mit einem Rechtsmittel anfechtbares Urteil lasse das Gesetz in vielen anderen Fällen bereits als Grundlage einer – vorläufigen – Zwangsvollstreckung ausreichen, weil es das Interesse der zunächst einmal obsiegenden Partei, ihren Klageanspruch zu verwirklichen, – von Ausnahmen abgesehen – höher bewerte als das Interesse der Gegenpartei, bis zu einer endgültigen Klärung der Rechtslage von Vollstreckungsmaßnahmen verschont zu bleiben. Deshalb müsse auch ein von der Arbeitnehmerin im Kündigungsprozess erstrittenes Feststellungsurteil trotz der Ungewissheit, ob es im Rechtsmittelverfahren bestätigt wird, bei der notwendigen Abwägung der widerstreitenden Interessen der Arbeitsvertragsparteien hinsichtlich des Beschäftigungsanspruchs erheblich ins Gewicht fallen. Es wirke sich, solange es bestehe, dahin aus, dass nunmehr die Ungewissheit des endgültigen Prozessausgangs für sich allein ein überwiegendes Gegeninteresse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung nicht mehr begründen könne.
Zahlung aufgrund nicht-rechtkräftigem Urteil erfolgt mit Rechtsgrund und ist Einkommen
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze sei die Lohnzahlung daher zunächst mit Rechtsgrund erfolgt, ohne dass dem die sich (erst) nach der rechtskräftigen Entscheidung des LAG ergebende Rückzahlungsverpflichtung aus ungerechtfertigter Bereicherung der Klägerin nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entgegenstünde.
Denn rechtlich und praktisch müsse es der Gläubigerin des Rückzahlungsanspruchs – hier der Arbeitgeberin – auch tatsächlich möglich sein, ihren Anspruch geltend zu machen; die Tatsachen des Überzahlungstatbestands müssten ihr bekannt sein, was jedoch frühestens nach Eintritt der Rechtskraft des LAG-Urteils, mithin nach Ablauf dies hier in Rede stehenden Bewilligungs- und Aufhebungszeitraums, der Fall gewesen sei. Vorher bestand keine fällige Rückzahlungsverpflichtung, diese war allenfalls ungewiss.
Das Landessozialgericht erklärt weiter: Da die Rückzahlungsverpflichtung somit erst nach den hier streitigen Zuflussmonaten eingetreten sei, bliebe sie für die Bestimmung der Hilfebedürftigkeit im Zuflussmonat unberücksichtigt, wie im Übrigen auch grundsätzlich gelte, dass zum Zeitpunkt des Zuflusses bestehende Verbindlichkeiten unbeachtlich seien.
Quelle
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg auf sozialgerichtsbarkeit.de